Schwarze Sonne

Faszinierendes Naturphänomen – „Schwarze Sonne“ zieht Massen
Hunderttausende schwarze Schwingen, leise rauschend über die nordische Einsamkeit gleitend – dieser Anblick lockt Touristen jedes Jahr im Frühjahr, wenn sich Starenschwärme an der dänischen Grenze sammeln – zur „Schwarzen Sonne“. Wo ist die schwarze Sonne? Am Rande des Haasberger Sees, dicht gedrängt auf einem Parkplatz, steht eine Gruppe von etwa 20 älteren Herrschaften und äugt angestrengt in die Ferne. Es ist kalt hier bei Aventoft in den nordfriesischen Marschen, unweit der Grenze zu Dänemark, und nun beginnt auch noch die Dämmerung – und damit das Spektakel, auf das die Gruppe unter Leitung des Biologen Iver Gram wartet. Einige Vögel haben sich am See niedergelassen, aber sie sind uninteressant für die Gruppe aus der dänischen Stadt Tønder. Die schwarze Sonne ist es, worauf sie warten. So wird das Naturphänomen genannt, das sich alljährlich Anfang des Frühjahrs und im Spätsommer in der Region um Tønder abspielt: Hunderttausende Stare lassen sich in den Marschen, an Seen nieder: laut Gram das grösste Übernachtungsgebiet für die Vögel in Nordeuropa. Zuvor treffen sie in der Luft über den Schlafplatzen zusammen, in immer wieder neuen Formationen. „Luftballett“ nennt es das Rømø-Tønder Turistbureau. „Ganz wichtig“ sei das Phänomen für die Region, sagt Tourismuschefin Bodil Glistrup. „Das ist das Beste, was wir hier haben.“

Stare „specken sich hier auf“
Iver Gram führt Touristen zu den Starenlagern. Vor zehn Jahren hat er sein Unternehmen „Sort Safari“ gegründet. „Sort Sol“ ist der dänische Begriff für „Schwarze Sonne“. Die Vögel kommen aus Belgien und Frankreich, erzählt Gram während der Führung. Sie wollen weiter ins Baltikum und nach Russland, und im deutsch-dänischen Grenzland „wollen sie fett werden“, schmunzelt Gram. Käferlarven, Insekten, Grünlandfutter – von 70 auf 110 Gramm Körpergewicht nehmen die Stare zu, dann sind sie brutbereit. „Die specken sich hier auf.“ Zudem hätten sie hier ein geschütztes Areal und könnten sicher im Schilf übernachten. „Kleine Säugetiere können sie nicht attackieren.“ Und auch der Mensch ist weit weg. Selbst Windräder, sonst allgegenwärtig in der Region, stören hier nicht mit ihren Lichtern. Inzwischen ist es nach 18 Uhr, die Safariteilnehmer zücken ihre Ferngläser. „Da!“ ruft Gram. Unruhe macht sich breit. Ist der dunkle Schleier da hinten schon die Staren-Wolke? Gram ruft noch einmal und weist über den grauen See und den grauen Himmel. Auf einmal wird der Schleier schwarz und dehnt sich aus, wird zu einem weiten Netz. Star-Scharen! „Oh“ und „ah“ tönt es aus der Gruppe. Das Ballett hat begonnen. In regelmässigen Abständen wehen die Himmelstänzer über den See und die Menschen, bilden Trichter, Spiralen und Wolken.

Verschiedene Angriffstypen
„Jede Formation zeigt einen Angriffstyp“, erläutert Gram. Seit Jahrzehnten beobachtet er die Tiere. Längst kann er am Muster des Starenflugs erkennen, wer angreift: ein Habicht oder ein Zwergfalke oder eine Wiesenweihe. Grams Gäste drehen sich mit den Vögeln nach rechts und links. 45.000 Gäste hat Gram nach eigenen Angaben pro Jahr. Bis zu drei Stunden geht er mit ihnen auf Safari. „Sort Sol ist das Naturphänomen, das man erleben sollte“, findet der 56-Jährige. Auch nach all den Jahren kommt bei ihm keine Routine auf. „Jeder Abend ist anders. Und es ist schön, weil die Gäste begeistert sind.“ Die sind zumeist älter, ab 65 Jahren aufwärts, und Dänen. Deutsche kämen selten, dabei seien doch auch Schauplätze auf deutscher Seite, „und wir führen gern auf Deutsch“. Laut Bodil Glistrup kommen viele Kunden aus Kopenhagen. Künftig soll vermehrt auf Touristen aus Deutschland gesetzt werden. Eine Kooperation etwa mit Sylt sei angedacht. Denn Deutsche seien durchaus interessiert, sagt auch eine Mitarbeiterin von Nordfriesland Tourismus. „Die Anfrage ist sehr hoch. Von Jahr zu Jahr wird es mehr.“ Auch junge Familien seien angetan. Es gebe aber nur eine Anbieterin von Führungen.

Star zum Abendessen
Gram arbeitet mit dem dänischen Umweltministerium und dem dänischen Naturschutz zusammen. Vier feste Mitarbeiter und viele freie hat er. Ohne die Safari-Leiter, sagt er, sei es schwer, die Schlafplätze der Stare zu finden. Alle drei bis sieben Tage wechseln die Vögel das Übernachtungsgebiet. Zwei Tage sind sie jetzt am Haasberger See. „Eine Kornweihe!“ Gram hat den Greifvogel entdeckt. „Der wünscht sich Star zum Abendessen.“ Aber die Luftartisten sind vorgewarnt und präsentieren eine neue Formation. Langsam wird es dunkel am See, doch Gram und seine Gäste wollen noch eine Weile in der Frühjahrskälte aushalten. Die Schwarze Sonne ist auch ohne Sonne einfach schön.

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